Ein halbes Jahr und ein Tag zu Hause – was Corona mit mir macht

Ach, meine geschätzte Leserschaft, fast hätte ich ein typisches 2020-Jubiläum im Klang der Sirenen vergessen. Oder eher im Nicht-Klang. Bei mir zumindest heulte nichts außer womöglich ein paar Aluhüten ob‘ des mal wieder ausgefallenen Weltuntergangs.

Aber nun zum Jubiläum: sechs Monate und einen Tag bin ich nun zu Hause, das halbe Jahr gerade vollgemacht. Und kein Ende in Sicht. Wenn ich Sie mal einladen darf auf den Trip, auf dem wir alle sind. Irgendwie gemeinsam und doch jeder für sich.

Eine Woche vielleicht, so dachte ich Anfang März. Ein Verdachtsfall im sehr weiten Umfeld, kein Drama, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und überhaupt, man weiß ja nicht.
Nein, nichts wusste ich. Nichts von alledem, was kam.
Am Anfang ist die Motivation groß. Vieles vorgenommen, etwas auch tatsächlich erledigt.
Morgensport mit VR-Brille und endlich auch mal ein Spaziergang, richtiges Frühstück, keine U-Bahn.


Die Wochen ziehen ins Land


Und leider auch die dunklen Wolken.
Der 80ste meines Vaters. Ausgefallen, Quarantäne.
Firma pleite, Job weg.
Mein Fenster zur Welt wird – noch mehr – der Monitor. Während für mich Rückzug zum Normalzustand wird, befeuert die Pandemie die Parade der Hirnverbrannte in ihrer seltsamen Lust am Untergang. Die Nachrichtenfetzen scheinen täglich bizarrer. Menschen prügeln sich um Klopapier. Pressekonferenzen, Erklärungen, der finale Siegeszug des Streaming.
Tabellen, Statistiken, R-Werte, K-Werte, Kurven rauf und Kurven runter.
Meine Fieberkurve steigt. Zum Glück nur die virtuelle.
Leichenwägen in Italien, Krankenwägen vor der Tür.
Brennende Städte in den USA, brennende Wälder im Amazonas, in Australien glühen die Reste.
Ich werde passiv, das Zusehen gewinnt zunehmend masochistische Züge. Aber wenigstens nehme ich ab.
Söder mutiert vom Kasper zum Macher, Drosten zum Meme, die Zahlen und Charts beginnen sich überlagern, zu verschwimmen. Tägliche Wechsel an der Führungsspitze der Neuinfektionen, eine Tor-de-Wahnsinn.
Kneipen zu, Kneipen auf. Klubs zu, Biergärten auf. Geschäfte zu, Geschäfte auf,
Masken runter, Masken rauf.
Das „Draußen“ erscheint mir plötzlich bedrohlich. Fremd. Der Hals kratzt.
Panik.


Ich muss aus dieser Schleife raus. Jetzt. Sofort.


Die Klaustrophobie meiner auf ein paar Quadratmeter geschrumpften Welt ist der Schlüssel.
Erst wenn sich alles verdichtet ist der Weg zur Öffnung möglich.
Also raus. Abends. Mit Abstand.
Ich beginne zu sehen. Zu beobachten. Wahrzunehmen.
Meine Stadt mit frischen Augen zu erfahren.
Es scheint mir, als hätte ich diesen Abstand gebraucht, um wieder Nähe zu gewinnen.
Und ich lerne. In diesem halben Jahr habe ich wohl mehr gelernt als fünf oder 10 Jahren zuvor.
Photographie für mich wiederentdeckt, Video, Ton. Ich schreibe wieder um des Schreibens Willen.
Homepages aufgesetzt, YouTube Channel gestartet.
Ja, vieles ist viertelt fertig und halb angefangen.
Doch ohne zu machen kann ich nicht weiterkommen – und es macht Freude, richtig viel Spaß.
Meine Batterien laden wieder, zuerst kaum merklich, doch irgendwann stelle ich fest, dass ich mehr Energie habe, als ich glaubte, noch mal haben zu können.


Mein Leben hat sich in den letzten Monaten weit mehr verändert, als ich es erwartet hätte. Ich denke, das geht den meisten so. Die Pandemie ist real, auch wenn sie nicht schmeckt und riecht. Die Maske in der Tasche ist erschreckend schnell zur Selbstverständlichkeit geworden. Das Überlegen, mit wem man sich wo trifft, auch. War der nicht erst Spanien, hat die nicht furchtbar viele Kollegen im Büro? Im Dingens treffen? Oh, ne du, sei mir nicht böse, aber die Tische da stehen sehr eng.
Ist das die „Neue Realität“?
Schwachsinn – als ob es jemals eine „Alte Realität“ gegeben hätte.
Wir leben im Hier und Jetzt, es gibt kein Zurück zu einer virtuellen Normalität.
Und so lange Spinner rumlaufen, die zurück ins Kaiserreich und besser noch gleich in die Höhle wollen, habe ich daran auch nicht das geringste Interesse.

Es gibt kein normales Normal


In den letzten Wochen ist mir klar geworden, dass es keinen Weg zurück zum Start geben wird.
Es ist viel verloren, auch vieles, was mir wichtig ist. Viele Fragen, wenig Antworten.
Werden wir je wieder Nächte erleben, schwitzend und glücklich in engen Clubs? Kaum.
Werden wir je wieder völlig unbedarft durch Menschenmassen laufen, in vollgestopfte U-Bahnen steigen, ohne zu zögern? Eher nicht.
Zumindest ich nicht.
Zurück zu Kreuzfahrten, kreuz-und-quer rumfliegenden Consultants und einer Welt, in der Home-Office immer noch als Ausrede fürs Wäschewaschen gilt? Zurück zu einer Welt, die auch ohne Corona völlig aus den Fugen war? Bestimmt auch nicht.
Nicht mit mir. Es muss etwas anderes geben, irgendwas zwischen hemmungslosem Konsum als Selbstzweck und gehemmtem zu Hause verkriechen.
Und das will ich finden, was auch immer es ist.

Corona hat mich definitiv verändert. Die Angst, mir dieses verdammte Virus einzufangen, kann ich nicht wegdiskutieren. Fehlende Sozialkontakte, der Schutz der Eltern vor Ansteckung, Angst um die Nächsten und Wut auf Leute, die die Realität verweigernd uns alle gefährden, ein Mix aus Gefühlen, den ich so noch nie hatte. Trauer und Mitgefühl für Menschen, die gestorben sind, vielleicht gerade irgendwo an einem Ventilator hängen, zwischen Tod und Leben.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – fühle ich mich so lebendig und kreativ wie nie.
Ich weiß um die Schizophrenie dieses Zustandes, doch kann und will ich keine Schuldgefühle dafür haben. Denn die Situation ist wie sie ist. Es zählt letztendlich nur, was man daraus macht. Ich versuche die Chancen zu sehen. Vielleicht verändert sich manches nachhaltig. Weniger Flüge, weniger fahren, weniger kaufen. Das mag der Wirtschaft nicht dienlich sein – doch ich möchte mich nicht darüber definieren, ob ich der Konsumgüterindustrie genüge.
Corona hat mich nachdenklicher gemacht – und auf eine perverse Art inmitten der Beengung freier. Freier in meinen Gedanken und freier in den Möglichkeiten, diese auszudrücken.

Sechs Monate ohne echtes Resümee

Was hat nun Corona mit mir gemacht? Mich sicher nicht zum besseren Menschen, auch nicht zu einer anderen Person. Aber es hat mich demütiger gemacht, dankbarer für das, was ist und was möglich ist. Und diese sechs Monate haben mir sehr klar vor Augen geführt, dass das Leben eine Reise ohne definiertes Ziel ist, Pläne eben nur das sind was sie sind: Pläne. Gewissheiten sind nur so lange gewiss, bis sie abgeräumt und ad Absurdum geführt werden. Wenn es sein muss dreimal am Tag.
Ich bin ruhiger als vor einem halben Jahr, balancierter und offener.
Und – warum auch immer – deutlich optimistischer.
Um ein Resümee ziehen zu können, ist es viel zu früh. Ich weiß nicht wirklich, wohin die Reise gehen wird und wie sich die Dinge auf dem Weg entwickeln werden.


Zweite Welle, keine Welle, perfekte Welle oder doch Dauerwelle?

Eines weiß ich jedoch sicher: ich bin neugierig darauf, es zu sehen, zu erleben und auf meine Art festzuhalten. Denn aussuchen können wir uns es alle nicht, wir sitzen in diesem Boot auf diesem Trip und Aussteigen ist schlichtweg unmöglich. Also hilft wirklich nur eines: das Beste draus machen.

In diesem Sinne, meine geschätzte Leserschaft: auf die nächsten sechs Monate. Oder zwölf.


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