Wiesn zwischen Wehmut und Wahnsinn

Dass ich keine erklärte Wiesn-Liebhaberin bin, muss ich weder betonen noch verheimlichen. Ich war vor 4 Jahren, am Tag des unsäglichen Nazi-Attentats auf dem Oktoberfest, auf dem Weg zur U-Bahn hörte ich den Knall. 10 Minuten früher, und es hätte für mich vermutlich ganz anders ausgesehen.

Es gibt auch noch genügend andere Gründe für mich, die Wiesn nicht heiss und innig zu lieben – Kommerz, Trachten-Fasching, Intersuff… ich denke, die Argumente sind bekannt.

Es gibt aber auch die andere Seite. Die Magie der Massen, dieser Flair, der es immer wieder schafft, durch die multiplen Lagen der Abzocke und der Touristenbespaßung durchzukommen.

Die Wiesn der Münchner

Das Mittagessen mit Kollegen im Biergarten vorm Zelt.
Der spontane Wiesn-Bummel mit Freunden.
Einfach mal quer rüber gehen, die Atmosphäre einsaugen.
Magenbrot (ok, das ist mein Laster).
All das fehlt mir – und dazu kommt nun ein handfester ökonomischer Aspekt. Die Wiesn ist für München eine wichtige Einnahmequelle. Hotels, Gastro, die Läden der Innenstadt. Aber das ist nur ein Teil des Bildes. Mir liegen die „kleinen Leute“ viel mehr am Herzen als Kaufhof und MotelOne.

Brezen fürs Studium

Hand aufs Herz: wer hat noch nie irgendwann direkt oder indirekt mit dr Wiesn das Budget aufgebessert oder hat Freunde, die drauf angewiesen sind?
Für Generationen von Münchner*innen war und ist die Wiesn ein fest einkalkulierter Bestandteil des Jahreinkommens. Kellner*innen, Brezenverkäufer*innen, Aushilfen an Buden, die Betreiber der kleinen Standl, Fahrgeschäfte und Büchsenwerfen, überall hängt ein Stück Münchner Kultur und Geschichte dran.

Mein Vater hat als Teenager das Blei aus den Schiessbuden zum Schrotthändler getragen, ein irischer Freund seine Sprachenschule mit dem Teufelswerfen bezahlt. dazwischen liegen fast 40 Jahre, doch die Geschichte ist immer die selbe: Brezn fürs Studium, Autoscooter fürs Taschengeld. Und für viele ist es schlichtweg die Miete und das tägliche Leben. 16 Tage Maßkrüge schleppen schafft eben eine gute Basis für die nächsten Monate.

Dass all dies heuer ausfällt, ist traurig, auch wenn mir die Nebeneffekte der besoffenen Massen nicht fehlen. Wütend macht mich, dass zwar die Großgastronomen mit der Wirtshaus-Wiesn unterstützt werden, die Herzerl-Verkäuferin und der Schaukelbursch auf der Strecke bleiben. Denn die sind das Herz der Wiesn – und nicht die Brauerei, die das Bier mit der Pipeline unters Zelt pumpt.

Der Anstich der Wiesn-Kellner und Bedienungen

Der Wiesn-Anstich heuer war nun tatsächlich was für die Geschichtsbücher. Darum bin ich auch hingefahren, denn das erlebe ich hoffentlich nicht nochmal.
Zu sagen, dass es mehr Polizei als Besucher auf der Theresienwiese gab, wäre stark übertrieben, nichts desto trotz war die Präsenz der Staatsgewalt nicht zu übersehen. Vermutlich hatten sie – ebenso wie ich – mit einem massiven Auflauf wildgewordener Maskengegner, Querdenker, Wutbürger und sonstiger Auswüchse des Covid-Jahres gerechnet. Die waren nicht zu sehen, dafür aber der harte Kern des Bräurosl-Teams.
In ihrem vollen Wiesn-Outfit auf den Stufen der Bavaria, mit alkoholfreiem Bier und Brezn, hatten sie ihren ganz persönlichen Wiesn-Anstich. Ohne Fass und ohne Oberbürgermeister – dafür aber mit sichtlich Freude inmitten der Tragödie.


Und das, meine lieben Mitspazierer*innen, sind die Momente, in der ich diester Stadt fast alles verzeihe.

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